Schule in Zeiten von Corona - eine Superheldengeschichte
Die Astrid Lindgren-Schule ist eine Grundschule in Mülheim an der Ruhr. Wir haben rund 250 Schülerinnen und Schüler, die mit einer großen Vielfalt kultureller und sozialer Hintergründe, einer großen Bandbreite an Begabungen und Herausforderungen das Schulleben bereichern.
Kathrin Grollmann, Schulleiterin der Astrid Lindgren-Schule, sagt dazu: „Es ist uns immer ein Anliegen, auf die individuelle Situation der Kinder zu achten, persönliche Stärken zu erkennen und jedes Kind entsprechend seiner Möglichkeiten zu fördern. Im Rahmen der Schulentwicklung vor dem Hintergrund der Förderkulisse durch RuhrFutur haben wir es uns zum Ziel gemacht, jedes Kind – ausgehend von seiner individuellen Lern- und Lebens-Ausgangslage – 5 Schritte weiterzubringen. Dieses Ziel verlieren wir selbstverständlich auch während einer so schwierigen Zeit nicht aus den Augen. Aber die Corona-Krise stellt uns mit Blick auf die uns anvertrauten Kinder vor besondere Herausforderungen.“
E-Learning darf nicht zur Chancenungleichheit führen
Viele Familien, aus denen die Schüler*innen der Astrid Lindgren-Schule stammen, haben Sprachbarrieren, manche haben aufgrund ihrer Herkunft gänzlich andere Bildungssysteme und -wege kennengelernt, einige haben wirtschaftliche Herausforderungen zu bewältigen.
Und wenn man diese Ausgangslagen mit dem derzeit allgegenwärtigen und so selbstverständlich anmutenden Ruf nach Digitalisierung, E-Learning und Homeschooling zusammenbringt, wird ganz schnell klar: Ein Bildungssystem mit einer Verantwortung für Schüler*innen darf nicht in Kauf nehmen, dass Kinder aufgrund mangelnder Zugänge zu Medien, zur deutschen Sprache oder zu hoch bürokratisierten Wegen abgehängt werden.
Wie aber soll Homeschooling gelingen, wenn man nicht voraussetzen darf, dass die technische Ausrüstung und das entsprechende Verständnis vorhanden sind? Gleichzeitig gilt es aber selbstverständlich trotzdem, die Kindern auch und gerade in dieser besonderen Situation nicht sich selbst zu überlassen. Nichts tun ist nicht die Alternative – weder für die Kinder noch für das Kollegium der Astrid Lindgren-Schule.
Grollmann: „Die Kinder sollen selbstverständlich zu Hause auch arbeiten können und den Zugang zu Lernmaterial erhalten. Aber das muss eben weitestgehend unabhängig von technischen, wirtschaftlichen, sprachlichen oder kognitiven Möglichkeiten funktionieren. Und es ist uns mindestens ebenso wichtig, den Kindern auch weiterhin als ihre Grundschule zur Seite zu stehen und sie als wichtige Bezugspersonen in ihrem Alltag zu begleiten – und das geht eben auch weitestgehend analog mit dem gebührenden Abstand im Rahmen des social distancings.“
Materialpakete auf jedem Platz
Als freitags die Schließung der Schulen öffentlich wurde, hat das Kollegium die Familien auf allen möglichen Wegen informiert. Neben Infos auf der Homepage und innerhalb von Emails wurden zahlreiche Telefonate geführt. Bereits am Montag standen dann Materialpakete für die Kinder zur Verfügung. Die Pakete lagen auf den Plätzen der Kinder in den jeweiligen Klassenräumen, die Eltern durften das Material zu festgelegten Zeiten abholen. Wer das nicht konnte, hat ein Päckchen nach Hause bekommen – überwiegend persönlich.
Die Kinder haben von ihren Lehrer*innen einen Brief bekommen und eine Übersicht, was sie an welchem Tag bewältigen sollten. Diese Übersicht ist den Kindern vertraut, denn mit solchen Wochenplänen arbeitet die Astrid Lindgren-Schule auch im üblichen Schulalltag. Als Richtwert für die Aufgabenmenge legte das Kollegium den doppelte Wochenplanumfang zu Grunde.
Persönliche Gespräche – ein Anruf von der Klassenlehrerin
Im Verlauf der 3. Woche während der vorzeitigen Schulschließung haben alle Klassenlehrer*innen ihre Schüler*innen angerufen. Es ging darum, einmal nachzuhören, ob es allen Familienmitgliedern soweit gut geht und ob die Kinder mit den Aufgaben zurechtkommen. Die Rückmeldungen während der Telefonate waren überaus positiv, die Kinder haben sich über den Anruf ihrer Lehrer*innen sehr gefreut.
Zum Ende der 3. Woche und damit zu Beginn der Osterferien wurden die Eltern erneut eingeladen, ein kleines Paket für die Kinder abzuholen. Das Kollegium hatte zwischenzeitlich die überwiegende Rückmeldung bekommen, dass die Kinder schnell mit den Aufgaben fertig geworden waren und durchaus gerne mehr Material hätten. Nun wollte die Grundschule aber auch den Ferien Rechnung tragen und nicht einfach nur neue Aufgaben ausgeben. Entsprechend gab es zwei Überraschungen für die Kinder: Dank einer Unterstützung durch die Stadt Mülheim konnten das Kollegium jedem Kind der Astrid Lindgren-Schule ein eigenes Buch schenken. Die Bücher waren jeweils von den Kolleg*innen mit Schleife, einem Schokoladenosterhasen und einem weiteren Brief an die Kinder versehen worden.
Nun wäre Heldi kein Superheld, wenn er nicht mit besonderen Kräften und einer speziellen Ausrüstung ausgestattet wäre. So trägt er an seinem Arm den „Superkraft-Anzeiger“. Immer wenn es Heldi nicht gelingt, sich an die Regeln zu halten und er zum Beispiel das lästige Händewaschen auslässt, verliert er Energie. Und dann fühlt sich Heldi nicht nur schwach, sondern der Balken auf seinem Superkraft-Anzeiger wird kleiner und beginnt rot zu blinken. So versteht Heldi langsam, worauf er aufpassen muss.
Außerdem war es dem Kollegium ein Bedürfnis, den Kindern inhaltliche Aufgaben zu geben in besonders ansprechender Form. Gleichzeitig suchte man nach Wegen, den Kindern auf verständliche Weise die aktuelle Situation näherzubringen. So entstand „Heldi“ ...
Eine Superheldengeschichte zum besseren Verständnis dieser besonderen Zeit
Kirsten Heer, Schulsozialpädagogin der Grundschule, erfand daraufhin die Figur „Heldi“ und hauchte ihr in einer Geschichte Leben ein. Dieser kleine Superheld, der ein bisschen wie der kleine Bruder von Pippi Langstrumpf aussieht, erlebt den momentanen Alltag als Schüler in Mülheim. Er darf nicht zur Schule gehen, darf seine Freunde nicht treffen und ist ziemlich verunsichert, was da gerade alles so passiert.
„Die Kinder sollen einen Zugang finden zu dem, was um sie herum passiert,“ sagt Kirsten Heer. „Die Kinder erleben doch gerade etwas, was völlig gegen ihre Natur ist: Sie dürfen ihre Freunde nicht treffen oder auf dem Spielplatz herumtoben, sie können vielleicht Oma und Opa gerade nicht sehen. Die Berichterstattung in den Medien, die Stimmung der Menschen und die gesamte Atmosphäre sind für Kinder verunsichernd. Und auch die Schule fehlt ihnen als verlässlicher Ort. Deshalb finden wir, dass die Kinder, die sich in dieser Situation irgendwie zurechtfinden und sich so gut es eben geht an die Regeln halten, wirkliche Superhelden sind.“ So heißt dann auch die Geschichte von Kirsten Heer: „Ihr seid alle Superhelden!“
Zusammen mit Kathrin Grollmann als Schulleitung und einer weiteren Kollegin sind Arbeitsblätter mit Aufgaben rund um „Heldi“ entstanden, die die Kinder in der nächsten Zeit bearbeiten können. Sie sollen noch einmal die wichtigsten Regeln aufschreiben, die Heldi einhalten muss, um seine Superkräfte nicht zu verlieren. Auf einem anderen Arbeitsblatt können die Kinder ihren eigenen „Superhelden-Alltag“ zu Hause beschreiben und notieren, was sie gerade am meisten vermissen.
Der Superheld wird auch beim Wiedereinstieg helfen
„Heldi wird uns in der nächsten Zeit begleiten,“ sagt Kathrin Grollmann, „und dann auch für den Wiedereinstieg in den Unterricht hilfreich sein.“ Dafür hat das Team auch bereits Ideen entwickelt: „Sobald die Schule wieder anfängt, müssen wir ein gesundes Maß finden. Es gilt, den Kindern so viel Raum zur Aufarbeitung zu geben wie nötig und so viel Normalität und gewohnte Struktur wie möglich.“ Deshalb bastelt Kirsten Heer bereits am 2. und 3. Teil der Geschichte rund um Heldi. Noch kann sie die Geschichten nicht ganz fertig schreiben: „Ich weiß ja noch nicht, wie es wirklich weitergeht, welche Auflagen es dann geben wird etc.“ Und die will sie natürlich in ihre Geschichten einbinden. „Auf jeden Fall wird Heldi dann wieder zur Schule gehen und mit einem „Fühlometer“ ausgestattet sein“, so die Schulsozialpädagogin. Der Fühlometer soll irgendwo zwischen Herz und Bauch befestigt sein und zeigt an, wie Heldis Stimmung ist. Ist er froh oder ängstlich oder beides? Hat er noch Fragen?
Die generelle Kommunikation zwischen Schule und Elternhaus
Zur Kommunikation mit den Eltern legt die Schule kontinuierlich aktuelle Informationen auf der Homepage ab, die Elternpflegschaftsvertreter werden mit Emails versorgt und der Bitte, die Informationen jeweils über ihre Kanäle und Kontakte an die Elternschaft weiterzuleiten. Ein großer Baustein sind Telefonate wie oben beschrieben. Das Arbeitsmaterial für die Kinder wurde immer mit persönlichen Briefen an Eltern und Kinder ausgegeben. Zum Beginn der Osterferien wurde darüber hinaus SchoolFox eingeführt. Diese kostenlose App ermöglicht es, auf dem Smartphone eine Klassengruppe anzulegen und Nachrichten zu versenden. Die Erfahrung der letzten Tage zeigt, dass die Eltern sich zu einem recht großen Prozentsatz angemeldet haben, das Smartphone ist weit verbreitet. Aber die gesamte Elternschaft wird über die App noch nicht erreicht. „Was die App nicht schafft, bewältigen wir weiterhin über Telefonate. Es geht bei SchoolFox ja ausschließlich um ein Instrument der Information. Da wir sehen, wen wir über SchoolFox nicht erreichen, können wir gezielt die jeweiligen Familien anrufen. Das ist einerseits eine Arbeitserleichterung, andererseits bleibt es eben fair,“ fasst Kathrin Grollmann zusammen.
Erreichbarkeit in irgendeiner Form dauerhaft gewährleistet
Kathrin Grollmann als Schulleiterin ist an jedem Wochentag mindestens zwischen 10.00 und 12.00 Uhr in der Schule zu erreichen. Über eine Email-Adresse können rund um die Uhr Nachrichten geschickt werden – die zuverlässig auch innerhalb eines Tages beantwortet werden. Um auch für die psychosoziale Versorgung der Familien weiterhin erreichbar zu sein, hat Kirsten Heer als Schulsozialpädagogin eine wöchentliche Sprechzeit eingerichtet. Während dieses Zeitraums können die Familien in der Schule anrufen und sich rund um Fragen des familiären Zusammenlebens beraten lassen. „Wir wissen, dass die Situation zu Hause derzeit eine Herausforderung darstellt. Der Alltag mit seiner Struktur ist weggebrochen, es gibt keinerlei entlastende Angebote mehr und hinzu kommen Sorgen um die Gesundheit oder auch Existenzängste. Das ist anstrengend. Die Familien wissen, dass wir als Schule da sind – und das soll jetzt auch gelten.“
Kathrin Grollmann fasst zusammen: „Niemand hat sich eine solche Situation ausgesucht oder gewünscht. Wir sind alle von dieser Krise auf irgendeine Weise betroffen und müssen nun damit umgehen. Für uns als Astrid Lindgren-Schule gilt, dass wir die Familien auch jetzt nicht alleine lassen. Wir bemühen uns nach Kräften, unserem Bildungsauftrag nachzukommen aber eben auch unserer Verantwortung als verlässliche Struktur. Und ich glaube, alles in allem gelingt uns das mit dem nötigen Augenmaß für die individuellen Bedarfe der einzelnen Familien wirklich gut – eben auch ohne E-Learning und virtuelle Klassenzimmer ...“
DOWNLOAD: HELDI (GESCHICHTE UND ARBEITSMATERIAL)
MEHR ZUM THEMA ELTERN UND SCHULE: HTTPS://WWW.ELTERN-UND-SCHULEN.DE/
Wir danken der Astrid-Lindgren-Schule, besonders Frau Heer und Frau Grollmann, für den inspirierenden Beitrag!