Leseförderung für Jungen
Frank M. Reifenberg schreibt Drehbücher für Film und Fernsehen sowie Kinder- und Jugendbücher. 2008 entwickelte er das Programm „Lesen erleben!“ zur Leseförderung von Jungen. Seine Schwerpunkte sind dabei die Leseanimation und Lesemotivation. Reifenberg ist Initiator und Künstlerische Leiter von „kicken & lesen Köln“, ein Projekt, das die Begeisterung fürs Lesen über den Fußball herstellt. Im Rahmen eines Lehrauftrags an der Universität zu Köln unterrichtet er „Leseanimation für Jungen“.
Am 23. September ist Frank M. Reifenberg (Foto: © Jörn Neumann) zu Gast bei Litera(Fu)tur: Leseförderung von Klein bis Groß, der gemeinsamen Veranstaltungsreihe von RuhrFutur, dem Germanistischen Seminar der Universität Siegen und des Instituts für Germanistik der Universität Duisburg-Essen.
Im Vorfeld dieser Veranstaltung haben wir mit ihm über Leseförderung für Jungen gesprochen.
RuhrFutur: Viele Studien zeigen: Jungen lesen weniger als Mädchen. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Frank M. Reifenberg: Ja, das ist immer wieder die Erkenntnis in den Studien zur Mediennutzung, bei PISA usw. Im Alter von 15 Jahren sagen mehr als 50% der Jungen, dass sie nie oder nur, wenn sie unbedingt müssen, lesen. Das sind doppelt so viele wie bei den Mädchen. Lesen wird von Jungen sehr oft als eine weibliche Kulturpraxis begriffen: Lesen ist Mädchenkram, lautet das Urteil dann. Ab der 5. Klasse fällt dieses Urteil oft recht radikal aus. Teils hat das mit der Entwicklungspsychologie in diesem Alter zu tun. Die Jungs definieren ihre Rolle neu, stellen immer mehr fest, dass es augenscheinlich Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt und immer striktere Zuordnungen zu Rollen- und Geschlechterklischees. Bücher, die ihnen in der wichtigen Phase des Erwerbs von Lese-/Schreib-Kompetenzen oft fast ausschließlich von Vermittlerinnen ans Herz gelegt werden, kommen dann rigoros auf die pinkfarbene Seite des Spektrums. Sie erleben selten oder oft auch nie Männer (Väter!) als lesende Vorbilder. Lesestoffe in der Schule werden oft eher an den Bedürfnissen von Mädchen entlang ausgesucht. Dabei wird oft nicht ausreichend auf die inhaltlichen Interessen von Jungen geachtet.
RuhrFutur: Sie bieten Workshops zur Leseförderung an. Warum konzentrieren Sie sich dabei ausschließlich auf Jungen?
Reifenberg: Man darf nicht nur über Jungen als Bildungsverlierer jammern, sondern muss nach pragmatischen Lösungen suchen. Als ich mit meinen genderspezifischen Projekten begonnen habe, gab es noch recht wenig konkrete Maßnahmen, die sich auf dieses Thema bezogen. Ich fand es sehr klar, dass es hier einen speziellen Förderungsbedarf gibt, ähnlich dem der Programme für Mädchen in den MINT-Fächern. Damit lag ich richtig, weil es sehr schnell Anfragen aus allen Bereichen gab.
Leseförderung brauchen wir für Jungen wie für Mädchen. Es ist schlimm, dass das nicht Standard in allen Bildungseinrichtungen und Schulformen ist. Jungs brauchen es eben besonders und in diese Lücke bin ich gesprungen. Mit dem Lehrauftrag an der Uni Köln und Einladungen an andere Hochschulen bin ich dann so eine Art Alltagsexperte an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis geworden.
RuhrFutur: Sie sind u.a. Initiator des Projekts „kicken & lesen Köln“. Was ist das für ein Projekt und welches Ziel verfolgen Sie und Ihre Mitstreiter*innen?
Reifenberg: Das Projekt basiert auf der Initiative der Baden-Württemberg-Stiftung, die „kicken & lesen“ als außerschulisches (Ferien-)Projekt seit 2008 anbietet. Ich habe es mit Ursula Schröter in der SK Stiftung Kultur der Sparkasse KölnBonn und dem 1. FC Köln zu einem ganzjährigen, schulischen Angebot im Bereich der Arbeitsgemeinschaften 5./6. Klasse weiterentwickelt und dazu eine Unterrichtseinheit herausgebracht. Seit 2013 gehen wir jedes Jahr mit 8–12 Schulen in ein Trainingsprogramm mit vielfältigen zusätzlichen Angeboten außerhalb der Schule. Es gibt einen sehr klaren organisatorischen und didaktischen Rahmen, die Lehrer*innen werden fortgebildet und gecoacht. Kern ist die Erkenntnis, dass (besonders flüssiges) Lesen nach der ersten Phase des Lesenlernens auch Trainingssache ist. Wir trainieren (mit Tandemlesen) das Lesen und schaffen zur Motivation viele Analogien zum Fußball. Das Projekt spricht vor allem Jungen an, die wirklich große Probleme haben, sich aufs Buch einzulassen.
RuhrFutur: Wie können Eltern, Erzieher*innen und Lehrkräfte Kinder – und besonders Jungen – motivieren, Interesse an Büchern und am Lesen zu entwickeln? Haben Sie Tipps?
Reifenberg: Ich tue mich schwer mit Tipps. Es geht um einen leider langwierigen Prozess mit vielen Faktoren, auf die wir manchmal wenig Einfluss haben. Wichtig ist, dass die Männer in allen Bereichen begreifen, dass sie als Vorbild gefragt sind. Dann muss man bei der Auswahl der Lesestoffe sehr genau hinschauen, sich für Kinderbücher interessieren und sie nicht nur irgendwie im Vorbeigehen mitnehmen.
Ganz wichtig ist es dabei, zu wissen, welche Interessen ein Kind hat. Hört sich selbstverständlich an, ist es aber häufig nicht. Plattformen wie die von mir mitgegründete Website boys & books helfen hier bei der Auswahl und Einschätzung des großen Angebots auf dem Buchmarkt.
Und ein ganz wichtiger Punkt, der nach den Jahren der Pandemie die Lage ganz sicher noch mehr beeinflussen wird: Oft wird übersehen, dass Kinder und besonders Jungen in der Grundschule nicht ausreichend gut und flüssig lernen zu lesen. Wer in der 6. Klasse oder später noch voll in der eigentlichen Prozessebene des Entzifferns festhängt, findet in und an Büchern keinen Spaß. Denen raucht davon nur der Kopf und sie verzweifeln daran. Besonders längere und fiktionale Texte werden geradezu zur Bedrohung. Eine Studie ergab, dass sogar ein Fünftel der Erwachsenen noch auf dem Niveau eines Zweitklässlers liest. Wie soll denn da ein dicker Schmöker Spaß machen?