Kabarettworkshop
Heute ist für Tilman Lucke alles anders: Die Schöpfe seines Publikums sind nicht überwiegend grau, sondern blond, brünett und sogar lila. Statt als Entertainer auf der Bühne zu stehen, sitzt er mit fünf Schülerinnen der Klassenstufe neun im Musikraum der Herbert Grillo-Gesamtschule in Duisburg-Marxloh. Sein Publikum ist nicht gekommen, um sich unterhalten zu lassen, sondern um etwas zu lernen, und der 34-jährige Kabarettist schlüpft in die Rolle des Lehrers. „Eine große Hemmschwelle beim Kabarett ist die Angst, die Darbietung nicht zu verstehen“, weiß Tilman Lucke. Beate Fröchte von RuhrFutur hat ihn als Workshopleiter engagiert. Als Projektmanagerin koordiniert sie alle zwei Jahre den Niederrheinischen Kabarettpreis „Das Schwarze Schaf“ für Nachwuchskünstlerinnen und -künstler; Tilman Lucke war einer der Teilnehmer. „Wir möchten junge Leute stärker für Kabarett begeistern“, sagt Beate Fröchte. „Es ist wichtig, dass junge Menschen sich für gesellschaftskritische Themen interessieren.“
Auch für die fünf Mädchen, die sich zu dem Kabarettworkshop angemeldet haben, ist in dieser Projektwoche alles anders: Während der Unterrichtszeit dürfen sie sich lustig machen über Gott und die Welt, sie dürfen ihre Lehrerinnen und Lehrer hemmungslos durch den Kakao ziehen und statt kluger Interpretationen verrückte Geschichten verfassen. „Es ist das Wesen von Kabarett und Comedy, dass man sich etwas traut!“, ermuntert Tilman Lucke. Man darf sogar politisch inkorrekt sein, mit Vorurteilen und Stereotypen spielen. Hülya (16) traut sich und liest das Gedicht „Die Queen im Weinkeller“ vor: „Die Queen will heute einen heben …“, geht es los. Dann gerät sie ins Stocken: „Herr Lucke, ich kann Ihre Schrift nicht lesen!“ Die 16-Jährige hat die Reime nämlich nicht alleine verfasst; sie sind als „Blindgedicht“ aus mehreren Federn entstanden.
Konflikte provozieren
Die erste Zeile hat Mira Grub geschrieben, die als Lehrkraft auf Zeit im Auftrag der Bildungsinitiative „TeachFirst“ an der Schule ist und das einwöchige Kabarettprojekt begleitet. Tilman Lucke hat die folgenden beiden Zeilen beigesteuert. Bevor er das Blatt an seine Sitznachbarin, eine Schülerin, weitergab, faltete er es so, dass die ersten beiden Zeilen verdeckt blieben und nur die letzte Zeile zu lesen war. Darauf musste das Mädchen neben ihm einen Reim finden. Auf diese Weise sind eine ganze Reihe von Blindgedichten entstanden. Zunächst haben sie Denkfalten auf die Gesichter gezaubert, aber nun sorgen sie in der Runde für große Heiterkeit. „Am Anfang war es anstrengend und schwer“, gesteht Hülya, die mit ihrer Familie zu Hause Türkisch spricht und daher mit einigen Ausdrücken gehadert hat. „Aber das Vorlesen der Texte macht Spaß!“ Hülya zeigt Talent beim Vortragen: Intonation und Mimik setzt sie intuitiv ein, um die Wirkung der Worte zu unterstreichen. Mit der literarischen Qualität des Textes ist der Workshopleiter allerdings weniger zufrieden: „Da haben wir uns etwas gehen lassen und manchmal schlampig gereimt“, kritisiert er, als er den Text noch einmal in Ruhe liest. „Das ist ein Gedicht, das auch mal passiert.“ Schwamm drüber!
Das nächste Produkt kommt an die Reihe: „Der Zombie im Schwesternzimmer“. „Wir haben vorher bewusst Orte und Personen gesucht, die nicht zueinander passen, um Konflikte zu provozieren“, erklärt Lucke. Zum Beispiel Oma und Disco oder Zombie und Schwesternzimmer. Eve trägt den Text dazu vor: „Im Schwesternzimmer geht es ab, da sind die Röcke ziemlich knapp …“ Obwohl die Darbietung etwas lustlos gerät – Eve geht es nicht so gut –, hat die Runde viel zu lachen. „Der Konflikt kommt gut raus“, lobt Lucke. „Super Reime, und auch das Metrum stimmt fast immer.“ Mit dem Metrum – Jambus, Trochäus, Daktylus – und unterschiedlichen Reimformen haben die Schülerinnen sich am zweiten Workshoptag beschäftigt. Ein bisschen Theorie muss sein, damit das Ergebnis stimmig ist. „Ein gelungenes Gedicht erzählt immer eine Geschichte“, verrät der Meister des politisch-literarischen Kabaretts. Kreativität habe viel mit Kopfkino zu tun; die Texte sollen Bilder entstehen lassen. „Wenn ich einen Witz erzählen möchte, ist außerdem Indirektheit wichtig“, ergänzt er, „denn sie fordert den Zuhörer zu einer Denkleistung heraus.“
Wie funktioniert Komik?
Höchste Zeit für eine kreative Pause und einen kleinen Rückblick auf die Woche. Am vierten Workshoptag haben die Schülerinnen ihre Scheu vor dem fremden Mann, der sogar im Fernsehen auftritt und auf YouTube zu sehen ist, vollends überwunden. Der Kabarettist hat ausgelotet, was mit den Mädchen möglich ist und wo er seine Erwartungen anpassen muss: „In früheren Workshops habe ich mit Schülerinnen und Schülern der Oberstufe gearbeitet. Sie hatten ein stärkeres Interesse an Politik und kannten Comedysendungen wie die Heute-Show.“ Bei den Neuntklässlerinnen sei die Allgemeinbildung noch ausbaufähig, daher hat Lucke sich entschieden, mit den Mädchen anstelle politischer Sachverhalte private Themen kabarettistisch umzusetzen. „Wir schauen gemeinsam, wie Komik funktioniert, ohne Inhalte vorauszusetzen.“
Dabei können die Teilnehmerinnen eine ganze Menge lernen: „Das Dichten ist eine gute Möglichkeit, mit Sprache umzugehen, auch wenn es zunächst fremd ist“, beschreibt der Kabarettist. Die Schülerinnen üben sich in Genauigkeit beim Formulieren, erweitern ihre Ausdrucksmöglichkeiten und lernen, was um sie herum geschieht, zu reflektieren und zu hinterfragen. „Wenn man selbst Texte produziert, bildet man sich weiter.“ Schreibt man „halbtot“ nun mit einem „T“ oder einem „D“ am Ende? Was ist ein unreiner Reim? Wie gelingt eine Pointe? Das sind Fragen, die Hülya, Eve, Saskia, Gina und Lisa Marie in dieser Woche umtreiben.