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"Immer wenn wir mit der Realität streiten, verschwenden wir unsere Energieressourcen."

2. September 2020
Ein schreiender Mann
Im Interview spricht Simone Kriebs, Pädagogin und Systemische Familientherapeutin, über die derzeitigen Herausforderungen für Lehrkräfte sowie Eltern und darüber, wie Krisen gemeistert werden können.

Frau Kriebs, Sie arbeiten mit Familien, aber auch mit Lehrkräften. Mit welchen Fragen werden Sie von den Lehrkräften derzeit besonders häufig konfrontiert?

Die Rückmeldungen der Lehrkräfte, mit denen ich gesprochen habe, waren sehr unterschiedlich. Einige hatten große Sorge vor einer Infizierung mit dem neuen Virus oder davor, dass einem ihrer Familienmitglieder etwas passiert. Einige haben es auch als entspannte Auszeit gesehen und das Beste daraus gemacht. Besonders zu Beginn der COVID-19-Pandemie hatte ich mit vielen Schulleitungen und Lehrkräften Gespräche zu den neuen Herausforderungen und der Ungewissheit, wie es jetzt weitergeht. Schulschließungen sind ja im Normalfall nicht so einfach und nun sollte von heute auf morgen alles stillstehen … Wie soll der Unterrichtsstoff vermittelt werden? Was bedeutet die Schließung für die Lehrkräfte? Welche Aufgaben haben sie nun zu erledigen? Ebenso ist die unerwartete Entscheidung, die Grundschulen in den letzten Wochen vor den Sommerferien jetzt wieder normal öffnen, bei vielen Lehrern auf Unverständnis getroffen. Unklarheit und Veränderungen lösen bei vielen Menschen Unsicherheiten aus. Sind wir es doch gewohnt eine gewisse Planbarkeit zu haben, die uns ein Gefühl von Kontrolle vermittelt. Fällt dieses Gefühl weg, so zeigt sich schnell, wie groß unser Vertrauen in das Leben ist. Wie hoch unsere innere Resilienz ausgeprägt ist. 

Zur Person

Simone Kriebs

Simone Kriebs ist Diplom-Pädagogin (Universität Duisburg-Essen), Anti-Aggressivitäts-Trainerin/-Ausbilderin und Autorin. In den letzten 18 Jahren hat sie rund 1.800 Institutionen und 83.000 Kolleg*innen in der Persönlichkeits- und Teamentwicklung begleitet. Im Rahmen der digitalen Veranstaltungen von RuhrFutur gibt sie regelmäßig Webinare und Workshops.

Was empfehlen Sie den Lehrkräften?

Zunächst lade ich jeden erst einmal ein, Ruhe zu bewahren. Denn wenn unser inneres Stresslevel zu hoch ist, können wir meist keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wir befinden uns in einer vermeintlichen Notsituation, in der wir noch genau drei Dinge können – und klares Abwägen gehört nicht dazu. Stattdessen verfallen wir in Anklagen, Rückzug oder Resignation. In herausfordernden Zeiten ist es wichtiger denn je für sich zu sorgen, Verantwortung für sich selbst und die eigenen Gefühle zu übernehmen. Dadurch lassen sich Lösungswege erkennen und die eigene Selbstwirksamkeit stärken – anstatt in alte Automatismen zu verfallen. Selbstverständlich gibt es äußere Bedingungen, die sich gerade verändern, doch wie wir diese bewerten, welche Gedanken wir verfolgen oder worauf wir unseren Fokus richten, hat letztlich mit uns selbst zu tun. Unsere inneren Antreiber, Ängste und Unsicherheiten prägen ganz maßgeblich, wie wir Situationen interpretieren und uns verhalten. Ist uns dies bewusst, dann haben wir plötzlich Einfluss und fühlen uns den Ereignissen nicht mehr so ausgeliefert. Denn schließlich haben wir die Wahl, welcher Mensch wir in der Krise sein möchten. Ich empfehle Lehrkräften und auch Eltern sich bewusst zu machen, dass sie nicht Opfer ihrer Umstände sind sondern aktive Gestalter ihrer Wirklichkeit. 

Ich empfehle Lehrkräften stets, sich in der persönlichen Weiterentwicklung zu schulen. Nicht nur in Zeiten von Corona ist es meiner Ansicht nach die beste Prävention für einen entspannteren Umgang mit Herausforderungen, die der Job und das Leben mit sich bringen. Ein weiterer Schritt, um uns selbst wieder ins innere Gleichgewicht zu bringen, ist es, zu akzeptieren, was wir nicht ändern können. Wie gerne regen wir uns Stunden, Tage oder gar Wochen über etwas auf, das längst vorüber ist oder worauf wir gar keinen

StaySafe

Einfluss haben. Wenn ich auf der Suche nach einer Lösung dafür bin, dass etwas im Außen nicht mehr passiert, mache ich mich selbst unglücklich, da ich es nicht kontrollieren kann. Dass Eltern mir beispielsweise spät abends noch Mails schicken oder versuchen, mich telefonisch zu erreichen, werde ich vermutlich trotz aller Hinweise und Erklärungen nicht immer vermeiden können. Dass sich ein Kollege oder ein Schüler uns gegenüber respekt- oder rücksichtslos verhält, liegt nicht in unserer Macht.

Doch wenn wir ehrlich sind, sind diese Momente sehr kurz im Vergleich dazu, wie lange wir innerlich daran festhalten. Immer wenn wir mit der Realität streiten, also nicht anerkennen wollen, dass das, was passiert ist, nunmal passiert ist, verschwenden wir unsere Energieressourcen. Wir lenken unseren Fokus auf etwas, was nicht mehr zu ändern ist. Das strengt an und führt zu einem ausweglosen Unterfangen. Wenn wir stattdessen, unseren Fokus auf die Dinge legen, die in unserem Handlungsspielraum liegen, dann setzen wir innerlich Energie frei, die wir nutzen können, um Lösungen zu finden. Dies stärkt unsere Selbstwirksamkeit und erinnert uns daran, dass wir immer die Wahl haben. Die Wahl, wie wir mit dem, was das Leben uns bietet, umgehen wollen. Schuldscheine zu verteilen, führt nur dazu, dass ein Konflikt aufrecht gehalten wird. Mitgefühl und echtes Interesse daran, den anderen zu verstehen, schafft eine friedfertige Atmosphäre. 

Durch die Schulschließungen sind die Herausforderungen auch für viele Eltern gestiegen. Homeschooling und Home Office müssen vereinbart werden. Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit den Eltern derzeit?

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Ich empfinde Eltern nach wie vor sehr kooperativ und unterstützend. Viele Eltern, die ich kenne, haben den Anspruch, es richtig zu machen. Sie möchten gute Eltern sein und zugleich den Anforderungen der Schule, des Arbeitgebers oder des Partners gerecht werden. Das kann manchmal ein ganz schöner Spagat sein. Die eigenen Bedürfnisse nach Ruhe, Unterstützung und

Zeit stehen da meist hinten an. Das kostet Energie und führt zu innerer Angespanntheit. Mit den eigenen Eltern zu lernen, bedeutet oft eine völlig andere Beziehungsdynamik, als von einer Lehrkraft zu lernen. Diese Dynamik führt in manchen Familien zu echten Dramen. Ich erlebe aber auch, dass einigen Eltern einfach die Möglichkeiten fehlen, den Anforderungen gerecht zu werden. Gefühle von Unzulänglichkeit und Überforderung führen dazu, dass sie sich zurückziehen oder gar in den Modus der Anklage gehen. Die Fragen, die sich dann stellen, sind: Welche der mir zugeschobenen Verantwortung will ich übernehmen? Welche gehört wirklich zu mir? Wie kann ich offenen Herzens zuhören und Mitgefühl zeigen? 

Was empfehlen Sie den Eltern?

Sich hinzusetzen und eine Aufstellung über die Anforderungen aus den unterschiedlichen Bereichen zu machen, die gerade an einem zerren. Beispielsweise zu folgenden Themenschwerpunkten: Familie, Job, Schule/Lehrer, Kinder, Geld, Gesundheit. Im zweiten Schritt geht es darum zu priorisieren. Was ist wichtig und was ist dringend? Beispielsweise ist es wichtig, dass meine Kinder die Lerninhalte der Schule verstehen und zugleich ist es dringender, meine beruflichen Aufgaben zu erledigen, weil ich Sorge habe, meinen Job zu verlieren. Ich lade Eltern dazu ein, sich anzuschauen, wie umfangreich die Aufgaben sind. Welche davon können sie begleiten, welche müssen sie begleiten? 

Selbst zu entscheiden, was gerade im eigenen System möglich ist – und was eben nicht. Einzuschätzen, wo das Kind überfordert ist oder die Aufgaben zu umfangreich sind, und dafür eine Entscheidung zu treffen. Keine Lehrkraft kann sich ein Bild von jedem Zuhause ihrer Schüler machen. Es gibt viel zu viele Variablen, die da hinein spielen. Als Eltern sind wir zu Hause für das Miteinander und das Wohl unserer Kinder verantwortlich. Diese Entscheidung, wie das Kind zu Hause lernt und wie lange es ihm gut tut, liegt in der Verantwortung der Eltern. Dem einen Kind fällt es ganz leicht, die Aufgaben zu machen und es arbeitet selbständig und mit Freude. Bei dem anderen Kind ist es zäh und mühsam. Es muss immer wieder erinnert werden und braucht viel Unterstützung. Da ist weniger oft mehr. Das Kind dann stundenlang zu „quälen“ bringt keinen besseren Lernerfolg. Kleine Lerneinheiten, die wie im Flug vergehen, während die Pausen und die Spieleinheiten größer sind, führen oft schneller zu Ergebnissen. 

Auch das Lernen an einen gemütlichen Ort zu verlegen, weg vom Schreibtisch, und sich stattdessen gemeinsam ins Bett zu legen oder in den Garten, kann die Lernhemmung reduzieren. Ich bitte Eltern bitte auch immer, sich in die Rolle der Lehrkraft zu versetzen. Im Homeschooling fehlt fast allen Lehrern die Erfahrung, was den Umfang und die Gestaltung der Aufgaben angeht. Wenn ich als Eltern mit Verständnis, statt mit Vorwurf reagiere, dann wird sich auch eine Lösung finden lassen, wenn nicht alle Aufgaben geschafft wurden. Ich gehe immer davon aus, dass die Lehrkraft ihr bestes gibt, um ihre Schüler gut zu versorgen und ihnen den Anschluss zu ermöglichen. Und so wie jeder Mensch, kann ich mich auch als Lehrer mal verschätzen.

Ihr Thema als Referentin in den RuhrFutur-Webinaren lautet: „Haltung und Resilienz in der Schule“. Worauf sollten Schulen in diesem Zusammenhang besonders achten?

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Die innere Haltung bestimmt unser Verhalten, den Umgang mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen. Doch häufig sind wir uns vieler konditionierter Haltungen und Bewertungen, die wir in uns tragen, gar nicht bewusst. Wir haben sie über das Lernen am Modell oder durch unsere Erfahrungen übernommen. In einem Kollegium treffen nun viele unterschiedliche

Haltungen zu den vielen einzelnen Themen aufeinander und sorgen dadurch nicht selten für Missverständnisse und Unstimmigkeiten. Seit vielen Jahren unterstütze ich Schulen dabei, sich mit den wesentlichen Haltungsfragen auseinanderzusetzen. 

Die individuelle Persönlichkeitsstärkung und die verbesserte Kommunikation im Kollegium sind die Hauptschwerpunkte in diesem Prozess. Dabei stelle ich immer wieder fest, dass die Wünsche und Bedürfnisse der Kolleginnen und Kollegen gar nicht so unterschiedlich sind. Die Diskrepanz besteht oft in der Art, wie diese umgesetzt werden. Als Team in die gleiche Richtung zu schauen und ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, ist langfristig nachhaltiger und kraftsparender als das weit verbreitete Einzelkämpfertum. Gerade die aktuelle Krise hat gezeigt, wie wichtig innere Stabilität und Flexibilität in dieser schnelllebigen Zeit ist. Schulen der Zukunft werden sich immer mehr darauf einstellen, dass neben curricularen Inhalten auch die individuelle Stärkung der Persönlichkeit von Schülerinnen und Schülern ein wichtiger Baustein ist, um junge Menschen auf die Anforderungen von Morgen vorzubereiten. Ich kann Schulen nur ermutigen, sich im System Angebote einzuholen und Zeitfenster zu schaffen, um sich gemeinsam auf die Reise zu begeben. Eine positive Schulkultur beginnt im Kollegium – dafür benötigt man Raum für gemeinsame Erfahrungen und persönliches Wachstum.

Frau Kriebs, vielen Dank für das Gespräch.